
Die Frankfurter Schirn wirft einen Blick auf Niki de Saint Phalle – Model, Feministin und Vorreiterin der Performancekunst. 21 Jahre nach ihrem Tod sind ihre Werke immer noch omnipräsent.

Durch Schießbilder, Skulpturengärten und ihre „Nanas“, diese überlebensgroßen, bunten, meist tanzenden Plastiken von Frauenkörpern aus Polyester, wurde Sie weltberühmt: Gemeint ist die französisch-amerikanische Malerin und Bildhauerin Niki de Saint Phalle, die am 21. Mai 2002 Jahren starb. Heute zählt die Pop-Ikone mit ihren abwechslungsreichen und zugleich kontroversen Werken zu den bedeutendsten Frauen in der Kunstwelt des 20. Jahrhunderts. Grund genug, warum die Frankfurter Schirn das Œuvre dieser visionären Künstlerin noch bis zum 21. Mai 2023 in einer Ausstellung beleuchtet.

Rund 100 ihrer Werke aus allen ihren Schaffensphasen sind derzeit in der Frankfurter Innenstadt zu bestaunen: Malereien, Reliefbilder, Zeichnungen, Fotos, Schriften und Skulpturen – chronologisch aufgebaut. Bevor aber die Künstlerin und Provokateurin in ihrem perfekt sitzenden Schießanzug mit einem Gewehr auf ihre Bilder schoss, bis die Farbbeutel platzten und sich die Farbe wie Blut über die Leinwand ergoss, ist in ihrem Leben so einiges passiert. Ihre bewegte Biographie war stets Antrieb für ihren vielfältigen künstlerischen Ausdruck.
Ein Knalleffekt ist die Wandfarbe, die die Kuratorin Katharina Dohm für die Ausstellung in der Schirn ausgewählt hat: „Ein glänzendes, leuchtendes Magenta, das so intensiv ist, dass man es körperlich spürt, geht fließend über in ein intensives Lila und endet schließlich in einem pflaumigen Blau“, umschreibt die Hessenschau die farbenfrohe Umgebung in der Kunsthalle. Und selbstverständlich sind auch sie in der Ausstellung in der Schirn präsent: Ihre „Nanas“. Schließlich sind sie das Markenzeichen der Künstlerin und haben Saint Phalle weltberühmt gemacht. Da gibt es die drallen, bunten Frauen-Plastiken fürs Wohnzimmerregal, bis begehbar und hausgroß.
Die Kunst ist weiblich

Dabei waren die Nanas für Saint Phalle Fluch und Segen zugleich: Einerseits schaute alle Welt immer auf diese eine Idee und selten auf die anderen Werke. Andererseits brachten sie als Topseller auch für kleine Geldbeutel das Geld ein, mit dem die Künstlerin ihre anderen Projekte finanzieren konnte. Inhaltlich sind die Nanas zugänglicher und nicht so komplex wie etwa die Schießbilder. Sie stehen für das, was wir sehen: starke, fröhliche Frauen, „Frauen, die vom männlichen, vom patriarchalen Blick befreit sind“, wie es die Schirn-Kuratorin Katharina Dohm beschreibt.
Doch erstmal der Reihe nach: Niki de Saint Phalle – alleine schon der Name klingt so, als ob er einem der ältesten französischen Adelsgeschlechter entstammt. Und tatsächlich, genauso ist es. Die französische Künstlerin Niki de Saint Phalle wurde am 29. Oktober 1930 als Catherine Marie-Agnès Falde Saint Phalle im Pariser Vorort Neuilly-sur-Seine geboren. Ihre Mutter war eine amerikanische Filmschauspielerin, ihr Vater stammte aus einem alten französischen Adelsgeschlecht und betrieb das Bankhaus der Familie namens „Saint Phalle & Company“. Im Jahr 1937 zog die Familie nach New York. Zu diesem Zeitpunkt nannte Sie sich bereits Niki. Dort besuchte Sie zunächst die Klosterschule Sacred Heart in der East 91st Street.
Durch ihr „Temperament“ musste Saint Phalle jedoch mehrmals die Schule wechseln – 1941 die Public School in Princeton, 1944 die Brearly School in New York. Nach einem weiteren Schulverweis von der Klosterschule in Suffren, wo sie die Feigenblätter der griechischen Skulpturen am Schulgelände mit hellroter Farbe bemalte, machte sie 1947 an der katholischen Mädchenschule Oldfield High School in Glencoe, Maryland, endlich ihren Abschluss. Zeitgleich begann Saint Phalle „Texte von Edgar Allen Poe, Shakespeare und griechische Tragödien zu lesen und schließlich selbst Gedichte zu schreiben“, berichtet das Online-Kunst-Journal Artinwords.
Nervenkrise und Elektroschocks
1948 heiratet sie heimlich ihren Jugendfreund, den US-amerikanischen Autor Harry Mathews. Im gleichen Jahr wurde die 18-Jährige Saint Phalle Fotomodell und pendelte zwischen Paris und New York. Bis zu ihrem 25. Lebensjahr posierte sie regelmäßig als Mannequin auf den Titelseiten international renommierter Magazine, wie etwa der „Vogue“, „Elle“ und „Life Magazin“. Auch nach der Geburt der Tochter Laura (1951, Boston) arbeitete Saint Phalle weiterhin als Modell. Im Jahr 1952 siedelte sie mit der Familie nach Paris über. Dort besuchte sie eine Schauspielschule und machte die ersten Malversuche.

Ihre Metamorphose vom Modell zur feministischen Künstlerin begann 1953 mit einem Nervenzusammenbruch, von dem sie sich in der psychiatrischen Klinik in Nizza erholte. Im Alter von nur 22 Jahren wurde sie dort eingewiesen, wo sie mit Elektroschocks behandelt wurde, die ihr Gedächtnis veränderten. Von den Psychiatern stark ermutigt, widmete sich Saint Phalle der Kunst: „Ich begann im Irrenhaus zu malen, wo ich lernte Gefühle, Angst, Gewalt, Hoffnung und Freude in Malerei umzusetzen. Durch das Schaffen entdeckte ich die düsteren Abgründe der Depression und wie man sie überwinden kann“, wird die Künstlerin im Kunst-Journal Artsper-Magazin zitiert. In dieser turbulenten Zeit fand sie zu sich selbst zurück und überwand ihr psychisches Trauma durch Malerei und Bildhauerei. „Dort begann sie wieder zu malen und stellte fest, dass dieses Arbeiten einen positiven Einfluss auf ihre Stimmungen ausübte“, so das Online-Kunst-Journal Artinwords weiter. Zu diesem Zeitpunkt fasste sie den Entschluss, ihre Schauspielausbildung aufzugeben und Künstlerin zu werden.

Knöpfe, Steine, Kaffeebohnen
Nach ersten Bildern im naiven Stil kreiert die Autodidaktin diverse Gebrauchsgegenstände zu Assemblagen, also zu dreidimensionalen Werken der Objektkunst, heißt es in einer Retrospektive der Samuelis Baumgarte Galerie. So begann sie in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre Alltagsgegenstände und Fundstücke wie Knöpfe, Steine oder Kaffeebohnen als dekorative Elemente in ihren Bildern einzuarbeiten. Später kamen Objekte wie Nägel, Scherben, Werkzeuge und Pistolen dazu, die sie auf Holzplatten in Gips oder Kunststoff einschloss und in ihre Reliefs und Assemblagen einarbeitete.
1960 verließ Saint Phalle ihren ersten Ehemann Harry Mathews und ihre mittlerweile zwei Kinder, weil sie Großes vorhatte: „Kunst machen, die mit Menschen kommuniziert. Die mit der weiblichen und ihrer eigenen Identität, mit der Rolle der Frau in der Gesellschaft und ihrer Unterdrückung kämpft“, so die Frankfurter Rundschau. Zu diesem Zeitpunkt machte sie auch öffentlich, dass sie in ihrer Jugend von ihrem Vater missbraucht worden war – und versuchte sich von diesem Trauma mit einer spektakulären Kunstaktion in Paris zu befreien: Sie nahm ein Gewehr und schoss auf Leinwände, in denen Farbbeutel versteckt waren. In der Tat war sie die erste Künstlerin überhaupt, die ein Schießbild machte und streng genommen mit dem Gewehr malte – es entstand eine neue Kunstrichtung, die Pop-Gun-Art.

Feuer frei zur Selbstbefreiung
In der Ausstellung „Feu à volonté“ (Feuer frei) in der Pariser Galerie J. Leo Castelli stellte Saint Phalle ihre Schießbilder zum ersten Mal der Öffentlichkeit vor. Leo Castelli, Jasper Johns, Robert Rauschenberg und zahlreiche weitere Hauptakteure der Kunstszene jener Zeit waren anwesend. Ausstellungen in Los Angeles (Dwan Gallery), Amsterdam (Stedelijk Museum) und New York (Iolas Gallery) folgten und läuteten die internationale Karriere der Künstlerin ein. Dementsprechend sind diese Schießbilder mit der blutenden Farbe aus den Sechzigerjahren nicht nur Dokumente einer Selbstbefreiung, sondern auch die Gründungs-Tat einer neuen feministischen Performancekunst. „Insgesamt waren diese Schießaktionen Happenings, bei denen der Akt des Zerstörens an sich zu Kunst und Pop-Art wurde“, berichtet die Frankfurter Rundschau weiter. Selbst die Künstlerkollegen Jasper Johns, Robert Rauschenberg und auch das Publikum machten bei den Schiessübungen aktiv mit, schreibt die Schirn in einer Meldung dazu. Die Aktionen erregten blitzartig Aufsehen, die Presse berichtete sofort. Bald war die Künstlerin über Frankreichs Grenzen hinaus bekannt.

Ein gewaltiges Zeugnis dieser neuen Erfolgsphase ist auch ihr sechs Meter langes Schießbild „King-Kong“ aus dem Jahr 1962. Im Bildmittelpunkt, unter einer angsteinflößenden Sonne, nimmt eine Godzilla-Figur Kurs auf die Großstadt New York. Auf Skyline und Stadt stürzen, „Boom“ ist in eine Sprechblase geschrieben. Satirische Porträts von männlichen Protagonisten der Weltpolitik sind abgebildet. In dieser Studie inszeniert Niki de Saint Phalle Karnevalsmasken anstelle bedeutender Männer. Nach dem Feuer der Kugeln, die die Leinwand durchbohrten, wurden anschließend die Gesichter von Nikita Chruschtschow, Fidel Castro, Abraham Lincoln, General Charles de Gaulle, dem Weihnachtsmann und John F. Kennedy erkennbar. „Produziert im Frühjahr 1963, weniger als sechs Monate vor der Ermordung des Präsidenten in Dallas, jagt das Werk mit seiner einleitenden Botschaft Schauer über den Rücken“, schreibt das französische Web-Magazin Slate dazu.


Ab 1963 entwickelte Saint Phalle zunehmend figürliche Assemblagen, die sich mit weiblicher Identität auseinandersetzen. „Obwohl sich die Künstlerin nicht aktiv an der aufkommenden zweiten Frauenbewegung beteiligte, nahm sie in ihren Werken zentrale Aspekte der feministischen Kunstbewegung vorweg“, schreibt die Schirn in ihrer Pressemittelung weiter. 1964 erschafft Saint Phalle die ersten „Nanas“, welche sie anfangs noch aus Draht und Textilien fertigt, wechselt aber rasch auf Polyester; ein Material welches bislang hauptsächlich im Bootsbau zum Einsatz kommt. „Nana“ ist laut der Enzyklopädie Wikipedia ein Begriff aus dem Französischen für eine moderne, selbstbewusste, erotische und verruchte Frau.
Mit dem Ausspruch „Alle Macht den Nanas!“ griff Saint Phalle Mitte der 1960er Jahre den Ideen der Frauenbewegung vor. Zeitgleich stellte Saint Phalle in Paris erstmals die neue Werkserie der Nanas vor, die sie auch als „Jubelfest der Frauen“ bezeichnete. In der Folge entstanden Nanas in vielen Ausführungen, in unterschiedlichen Materialien, Größen und Farben, als Skulpturen im öffentlichen Raum oder als begehbare Nana Häuser. Kurzum: Nanas wurden das Markenzeichen der Künstlerin.

Seit 1974 gehören die drei Nanas Sophie, Charlotte und Caroline am Leibnizufer der Stadt Hannover zu den begehrtesten Motiven im dortigen Straßenbild. Dabei waren die voluminösen Damen den Bürger*innen zunächst ein Dorn im Auge. Dem Protest folgte eine intensive Diskussion über Kunst im öffentlichen Raum – mit Happy End: „Den Hannoveranern sind ihre drallen Weiber längst ans Herz gewachsen. Und im Jahr 2000 wurde die Künstlerin zur Ehrenbürgerin ernannt“, so das Tourismus-Portal der Stadt Hannover. Sie ist Hannovers erste und bisher einzige Ehrenbürgerin.
Milchbar, Kino und Greta Garbo
Im Jahr 1965 entwarf Saint Phalle für den Zigarettenhersteller Peter Stuyvesant im niederländischen Zevenaar die zwei Meter hohe „Lili ou Tony“. Ein Jahr später schuf sie für die große Halle des Moderna Museet in Stockholm ein liegendes Überweib, das sechs Tonnen schwer und 25 Meter lang war. Zu betreten war diese berühmte, begehbare Nana-Großplastik „Hon, die Kathedrale“, durch die Vagina. So hatte die riesige Frauenfigur nicht nur breit gespreizte Beine, nein, das erstaunte Publikum konnte direkt durch die Scham ins Innere des Körpers im Gleichschritt hineinspazieren. Rund 100.000 Besucher*innen tauchten ein ins Innere „der größten Hure der Welt“, wie Saint Phalle ihre Figur selbst nannte, berichten die Stuttgarter Nachrichten. Drinnen in der Frauenfigur gab es demnach eine Sandwich-Maschine, in der Brust war eine Milchbar und im Arm ein Kino, in dem ein Kurzfilm mit Greta Garbo lief – „eine Frechheit für die damalige Zeit“, so die Frankfurter Rundschau.
Diese „Frechheit“ war natürlich gewollt und Saint Phalles ironischer Kommentar zum klassisch-konservativen Frauenbild der damaligen Zeit. Ihre progressive Aktionskunst war damals sensationell und brutal und zeigte die große Wut der Künstlerin, vor allem auf die Männer, die sie unterdrückten oder, wie ihr Vater, sogar missbrauchten. So schoss sich Saint Phalle damals wörtlich ihren Weg frei und offenbarte damit auch ihr progressives Weltbild „gegen Krieg, das Patriarchat, Frauenunterdrückung, Waffengewalt, privaten Machtmissbrauch und staatliche Aggression“, so die Hessenschau weiter.
Beeinflußt durch Künstlerkollegen
Die zweitgrösste Liebe der französischen Adligen war nach der Kunst der Schweizer Arbeitersohn und Künstlerkollege Jean Tinguely, den sie 1971 heiratete und somit die Schweizer Staatsbürgerschaft annahm. Gemeinsam mit dem Seelenverwandten Tinguely pflegte sie den Umgang mit der Künstlergruppe Nouveaux Réalistes, zu der unter anderem Jacques Villegle, Yves Klein, Daniel Spoerri und Armand Pierre Fernandez zählten. Sie war eine lose Künstlergruppe um den Kunstkritiker Pierre Restany, die als programmatische Bewegung entstand. Bei den „Neuen Realisten“ entstanden die Bilder vor den Augen des Publikums. Tinguely beispielsweise konstruierte für sein Happening in New York eine Maschine, die sich selbst zerstörte, Yves Klein choreografierte während einer Veranstaltung die Bewegungen weiblicher Modelle, die sich mit blauer Farbe bemalten und ihre Körper auf weißen Leinwänden abdruckten.
Es funkelt, spiegelt und glänzt
1979 peilte Saint Phalle ihren Lebenstraum an: Den eigenen Kunstgarten, in dem sie ihre begeh- und bewohnbaren Skulpturen aufstellten konnte. Und tatsächlich entsteht dieser Stück für Stück in der italienischen Gemeinde Capalbio, 140 Kilometer von Rom entfernt und trägt den Namen „Giardino dei Tarocchi„. Es ist ein ewiges Werk, denn es dauerte knapp zwei Jahrzehnte, bis es 1998 endlich für die Öffentlichkeit für einige Sommermonate freigegeben werden konnte. Inspiriert von dem Projekt wurde Saint Phalle dabei hauptsächlich durch den Park Güell von Antoni Gaudí in Barcelona sowie durch die bunten Keramikfliesenarbeiten des österreichischen Künstlers Friedensreich Hundertwasser.
Täglich giftige Dämpfe
Entstanden sind mitten in der toskanischen Hügellandschaft zweiundzwanzig Figuren (Arkana) des Tarots als große, bunte Skulpturen, die zum Teil bis zu fünfzehn Meter hoch sind und von farbigen Keramiken, Spiegel-Mosaiken und Glas bedeckt sind. „Ein Teil der Skulpturen ist im Inneren begehbar“, ergänzt das Online-Nachschlagewerk Wikipedia. Dort arbeitete Saint Phalle mit verschiedenen Materialien, die gegen die Gesundheits- und Sicherheitsvorschriften verstießen, und atmete täglich unglaublich giftige Dämpfe ein. Infolgedessen litt sie an Lungenentzündungen, diese Organe wurden durch den Polyesterstaub ihrer Skulpturen nach und nach zerstört. „Ihre Kunst hat sie gleichzeitig gerettet und getötet“ resümiert das Artsper-Magazin in seinem Blog. Vor 21 Jahren starb die Künstlerin im Alter von 71 Jahren in La Jolla, einem Stadtteil der südkalifornischen Stadt San Diego, an Atemnot. (DE/2023)
Kontakt:
Schirn Kunsthalle Frankfurt am Main GmbH
Römerberg
60311 Frankfurt am Main
Tel: 069 299882-0
E-Mail: welcome@schirn.de
Kosten:
12 € (an Wochentagen, ermäßigt 10 €)
14 € (an Wochenenden, ermäßigt 12 €)